Vollkommene Zahlen in der Arithmetik, geistlichen Exegese und literarischen Zahlenkomposition des Mittelalters

Otfried Lieberknecht


Vortrag, 18. Februar 1998, Universität Kaiserslautern, Sonderveranstaltung Geschichte der Mathematik
1. Einleitung | 2. Boethius | 3. Augustinus | 4. Alkuin | 5. Hrabanus | 6. Dante | Tabellen | Abbildung

1. Einleitung

Lesen und Schreiben sind Fähigkeiten, die zwar nicht jedermann gleich gut beherrscht, die aber doch in unserer Zeit zumindest in elementarer Form eine relativ breite Durchsetzung in allen Bevölkerungsschichten besitzen. Ähnliches gilt heute auch speziell für das Lesen und Schreiben von Zahlen, bis zu einem gewissen Grad sogar für das Rechnen mit ihnen, und wenigstens kurzzeitig werden heute die meisten Schüler auch mit der Benutzung von Recheninstrumenten wie Rechenschieber, Taschenrechner und Personalcomputer bekannt gemacht. Die breite Durchsetzung solcher Fähigkeiten ist bei uns in erster Linie Errungenschaft eines in den Lehrplänen vereinheitlichten Pflichtschulsystems, mit dessen Einführung Frankreich in der französischen Revolution den Anfang machte. In den voraufgegangenen Jahrhunderten war dagegen der Schulunterricht sowohl regional als auch sozial wesentlich stärker differenziert, und auch die Zahl derjenigen, die von seinen Segnungen überhaupt verschont blieben, war wesentlich größer, wenn sie nicht sogar die Mehrheit der Bevölkerung bildete. Für die Fähigkeit, mit Zahlen und Ziffern umgehen zu können, haben wir bis heute kein eigenes Wort im Deutschen. Aber in der amerikanischen Forschung hat man hierfür in Analogie zu "literacy" den Ausdruck "numeracy" geprägt, und in Anlehnung an dieses Vorbild will auch ich hier als Gegenstück zu `Alphabetisierung' den Behelfsausdruck `Numeralisierung' gebrauchen.

Parallel zur verstärkten Ausbreitung des Geldwesens und zu einer zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung kann man auch für die `Numeralisierung' breiterer Bevölkerungsschichten einen deutlichen Wandel im 13. Jahrhundert erkennen, der besonders von Italien und dann auch von Frankreich ausgeht. Bis zu dieser Zeit war mathematisches Grundwissen, nämlich im Rahmen der Sieben Freien Künste das Fachwissen der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie, außerdem das zur Berechnung der kirchlichen Festtage nötige computistische Grundwissen überhaupt nur einer sehr kleinen, zu kirchlichen oder staatlichen Ämtern bestimmten Elite in Klosterschulen, Kathedralschulen und den eben erst sich formierenden Universitäten vermittelt worden. Und auch das praktische Rechnen und die Benutzung des Rechenbretts war weitgehend auf Fachleute im klösterlichen und akademischen Bereich, im Finanzwesen und möglicherweise in einigen Bereichen des Handwerks wie dem Bauwesen beschränkt geblieben. Seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts wird dagegen ein zunehmender Bedarf speziell für praktisches Rechnen erkennbar. Dieser zeigt sich an der Ausbreitung des mathematischen Elementarunterrichts im sich formierenden städtischen Schulwesen und an der Entstehung einer umfangreichen nicht mehr nur lateinischen, sondern auch bereits volkssprachlichen Fachliteratur, in der auch der nicht Lateinkundige die Grundrechenarten und Beispiele ihrer praktischen Anwendung erlernen konnte. Auch an der Verbreitung des nach den Fingern wichtigsten mittelalterlichen Recheninstruments, des Rechenbretts, zeigt sich dieser geschichtliche Wandel. Das Rechenbrett, lateinisch abacus oder calculator genannt, war schon in der griechischen und römischen Antike in Gebrauch gewesen war, ist dann im Frühmittelalter aber über lange Zeit nicht mehr nachzuweisen und findet sich erst vom ausgehenden 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts wieder durch klösterliche Fachliteratur bezeugt, und zwar in einer gegenüber der Antike veränderten Form, mit bezifferten Rechensteinen, die außer Addition und Subtraktion auch Multiplikation und Division nach allerdings komplizierten Verfahrensweisen erlaubt. In dieser neuen, von Historikern auch als Klosterabacus bezeichneten Form blieb der Abacus allerdings ein ziemlich esoterisches und wenig verbreitetes Instrument. In nochmals veränderter Form, nämlich mit wieder unbezifferten Rechensteinen, erlangte es dann seit dem 12. Jahrhundert in England und seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich im Finanzwesen weitere Verbreitung, wobei es sich dann allerdings zumeist um ein Rechenbrett nicht mit dezimalen Spalten, sondern mit Spalten für die nicht-dezimalen Münnzeinheiten des Mittelalters gehandelt haben wird, mit denen sich für wissenschschaftliches Rechnen wenig anfangen läßt. Schon im 14. Jh. ist das Rechenbrett dann in Frankreich und England ein weit verbreitetes Utensil, nicht nur im Kontor des Kaufmanns, das seinen Namen von dem französischen Wort für `Rechenbrett' hat, sondern es gehört auch bereits zu den Utensilien privater Bürger- und Handwerkerhaushalte, wo es besonders häufig als Teil der weiblichen Aussteuer bezeugt ist. In Italien dagegen hatte sich schon im 13. Jh. im Handels- und Finanzwesen anstelle des Rechenbretts das schriftliche Rechnen mit den seit dem 12. Jh. allmählich bekannt gewordenen indisch-arabischen Ziffern massiv durchgesetzt, so sehr, daß italienische Bankiers und Kaufleute anscheinend hauptsächlich in ihren ausländischen Niederlassungen mit dem dort üblichen Rechenbrett, in der Heimat dagegen vorwiegend schriftlich mit den neuen Ziffern rechneten. Abacus bzw. ab(b)aco, wird in Italien überhaupt zum Synonym für das Rechnen mit den neuen Ziffern und für Rechnungswesen allgemein, während dieses Wort bis zum 12. Jh. nur das Rechenbrett und die Kunst seiner Benutzung bezeichnet hatte. Bis in die frühe Neuzeit finden sich im übrigen in Frankreich, Deutschland und besonders in England immer wieder schriftliche Rechnungen, in denen die Zahlen einerseits zwar in indisch-arabischen oder in römischen Ziffern notiert werden, ihre Addition oder Subtraktion andererseits aber vermittels einer abazistischen Linienzeichnung durchgeführt oder zumindest kontrolliert wird, in der Punkte oder Kreuze den Rechensteinen auf dem Abacus entsprechen.

Wenn wir es also seit dem 13. Jh. mit einer zunehmenden Numeralisierung breiter Bevölkerungsschichten zu tun haben, so bleibt dieser Vorgang doch größtenteils auf das praktische Rechnen mit den vier Grundrechenarten, insbesondere auf Addition und Subtraktion, beschränkt. Der gewöhnliche Kaufmannssohn mußte sich dagegen kaum mit arithmetischer Zahlentheorie, mit den irrationalen Zahlen der Geometrie, mit den Sexagesmimalbrüchen der Astronomie oder mit den Zahlenintervallen der Musiktheorie herumschlagen, wenn er nicht gerade das seltene Glück oder auch Ünglück hatte, mit dem genialsten, aber wenig verbreiteten mathematischen Lehrwerk des Mittelalters, dem Liber abbaci von Leonardo da Pisa, das neue Ziffernrechnen zu erlernen. Hatte besagter Kaufmannsohn jedoch wissenschaftliche Interessen, die über die Erfordernisse des bürgerlichen Broterwerbes hinausgingen, oder begann er sogar ein Studium, um in kirchliche oder staatliche Ämter zu gelangen, dann konnte allerdings auch er Zugang zu den traditionellen Lehrstoffen des Quadriviums finden, die in den Lehrbüchern seit der Spätantike mit einer bemerkenswerten Kontinuität weitergereicht worden waren, und zu denen seit dem 12. Jh. unter dem Einfluß arabischer Wissenschaft auch eine höchst anspruchsvolle Übersetzungs- und Traktatliteratur für Spezialgebiete wie Algebra und Optik hinzugekommen war.

Von dem so skizzierten Wandel blieb allerdings ein Bereich mittelalterlicher Zahlenverwendung weitgehend unberührt, nämlich die allegorische Interpretation von Zahlen im Bereich der Bibelexegese. Bibelexegeten hatten auf verschiedene Weise mit der Deutung biblischer Zahlen zu tun. Einerseits mußten sie natürlich auf der Ebene des Litteralsinns Jahreszahlen und Maßangaben erklären, nachrechnen und gegebenfalls auftretende Ungereimtheiten ausräumen. Auf der anderen Seite wurden aber biblische Zahlen oder Zahlenangaben auch und vor allem für die allegorische Exegese funktionalisiert. Allegorische Exegese, d.h. sehr vereinfacht gesagt, eine Auslegungsweise, die die wörtliche Aussage des Textes als Träger oder Hülle eines zweiten, gegebenenfalls auch noch mehrfach in sich differenzierten Textsinnes auslegt, indem sie die im Text wörtlich bezeichneten Dinge ihrerseits als Zeichen interpretiert, welche vermittels bestimmter sachlicher Eigenschaften auf andere, partiell ähnliche Dinge hindeuten. Die Herstellung solcher Verweisungsbezüge stütze sich in der Exegese auf partiell übereinstimmende Eigenschaften zwischen der zu deutenden Sache oder Person oder Handlung einerseits, und ihrem allegorischen Signifikat andererseits, und zu den als signifikant eingeschätzten Eigenschaften gehörten neben der stofflichen Qualität oder der ethnischen oder geographischen Zugehörigkeit oder bestimmten Funktionsmerkmalen sehr häufig eben auch zahlhafte Eigenschaften. Auf diese Weise konnten dann zum Beispiel die zwölf Stämme des erwählten Volkes Israels, die zwölf Edelsteine im Brustschild des Hohepriesters oder die zwölf Brunnen von Elim jeweils als Figur der 12 Apostel gedeutet werden, die von Christus zur Gründung seiner Kirche erwählt wurden und diese mit ihren Tugenden schmücken und mit dem Wasser ihrer Lehre speisen.

Viele bibelexegetischen Zahlendeutungen sind Deutungen dieses einfachsten Typs, bei denen speziell die Gleichheit der Zahl ein `tertium comparationis' zwischen Zeichen und Bezeichnetem bildet, aber ansonsten keine rechnerischen Operationen oder mathematischen Lehrinhalte erforderlich sind. Oft wurden jedoch auch besondere arithmetische Eigenschaften der auszulegenden Zahl selber herangezogen, um eine Beziehung zum Signifikat herzustellen, und zwar insbesondere dann, wenn das Signifikat nicht in einer bestimmten geeigneten Zahl auftritt, oder wenn die auszulegende biblische Zahl so singulär ist, daß sich ihr weder in der übrigen biblischen Geschichte noch in der sonstigen göttlichen Schöpfung ohne weiteres ein gleichzahliges Signifikat zuordnen läßt. Als ein bekanntes Beispiel lassen sich die 153 Fische anführen, die von den Aposteln aus dem See von Tiberias gefischt wurden (Io 21,11). Hier wurde für die Deutung gerne darauf zurückgegriffen, daß die 153 eine Dreieckszahl, ein `numerus trigonus' ist, d.h. sie kann durch Addition der natürlichen Zahlen 1 bis 17 gebildet werden und deshalb bei entsprechender Anordnung von 153 Einheiten als ein gleichseitiges Dreieck mit einer Seitenlänge von 17 Einheiten dargestellt werden. Vermittels dieser Beziehung zur Zahl 17, die ihrerseits in die Zehnzahl der Gebote und in die Siebenzahl der Gnade oder der ewigen Seligkeit aufgelöst wurde, konnten dann auch die 153 von den Aposteln gefangenen Fische als Figur Gläubigen gedeutet werden, die sich den Geboten Gottes (der Zehnzahl) unterwerfen und durch seine Gnade zur Seligkeit der ewigen Sabbatruhe (der Siebenzahl) erlöst werden.

Das arithmetische Fachwissen, das bei solchen Deutungen herangezogen wurde, war jedoch in der bibelexegetischen Tradition immer noch recht elementar und verlangte lediglich gewisse Grundkenntnisse, aber keine sehr weitreichende Schulung in den Fächern des Quadriviums: es beschränkte sich zumeist darauf, daß bestimmte Eigenschaften, die eine Zahl als gerade oder ungerade Zahl, als vollkommene, untervollkommene oder übervollkommene oder auch als Flächen- oder Körperzahl besitzt, für die Deutung beansprucht wurden. Proportionen und darauf aufbauende komplexere Lehrinhalte der Arithmetik und Musiktheorie spielten dagegen nur sehr selten eine Rolle, und für die Heranziehung irrationaler Zahlen ist in der Bibelexegese bisher überhaupt kein Beleg aufgetaucht. Auch was Zahlschriften und die Instrumente der operativen Arithmetik angeht, so wurden zwar seit patristischer Zeit häufig besondere Gegebenheiten der Fingerzahlen und der römischen und griechischen Zahlzeichen, nicht aber in späterer Zeit dann auch besondere Gegebenheiten des Abacus oder der indisch-arabischen Ziffern einbezogen. Die allegorische Zahlendeutung der Bibelexegese blieb vielmehr bis zur Reformationszeit im wesentlichen konservativ dem Deutungsgut der frühen Kirchenväter verpflichtet und ignorierte Änderungen und Fortschritte auf dem Gebiet der Mathematik. Die bibelexegetische Zahlendeutung war außerdem, sieht man ab von den patristischen Anfängen, in erster Linie eine Angelegenheit von Theologen für Theologen (oder Theologiestudenten), die von Laien nicht selbständig auszuüben war, von ihnen `de jure' ebenso wie die Bibelexegese überhaupt noch nicht einmal ausgeübt werden durfte, und deren Deutungsresultate der Laienwelt nur in dosierter Form in der Predigt und seit dem Spätmittelalter auch in sonstiger Erbauungsliteratur vermittelt wurden.

Mein Interesse an der Geschichte der Mathematik und an der Geschichte exegetischer Zahlendeutung ist nun speziell motiviert durch die Frage, welche Rolle Zahlen in der literarischen und poetischen Produktion des Mittelalters spielten, und in welcher Weise, über die bloße Produktion hinaus, mittelalterliche Autoren auch von ihren Lesern oder doch von einigen dieser Leser erwarteten, mit den Zahlen und zahlhaft gegliederten Aufbauverhältnissen in ihren Werken interpretierend umgehen zu können. Zahlen spielen natürlich zunächst einmal eine wichtige Rolle für den metrischen Aufbau des einzelnen Verses und der Strophe, und dieses Gebiet wurde von der modernen Literaturwissenschaft auch schon immer sehr gründlich bearbeitet. Zahlen dieser Art, die für die klassischen Versmaße von Augustinus in De musica auf musikalische Proportionen zurückgeführt werden, brauchten vom Leser bzw. Hörer der Dichtung nicht bewußt wahrgenommen zu werden, sondern konnten ihre ästhetische Wirkung auch unbewußt entfalten. Mein Interesse gilt dagegen der literarischen oder poetischen Adaption von Zahlen bzw. Zahlendeutungen aus dem Bereich der allegorischen Bibelexegese, d.h. solchen Fällen, in denen mittelalterliche Autoren ihre Werke für eine Exegese ähnlich der Bibelexegese einrichteten, und hier war dann natürlich ein bewußter Mitvollzug durch den Leser und dessen Einsatz eines spezifischen Fachwissens erforderlich. Das schränkt das Interesse notwendig ein auf Werke, deren Autoren eine gewisse Schulung auf dem Gebiet der Exegese besaßen und auch unter ihren Lesern zumindest einige mit einer solchen Schulung erwarteten. Denn die landläufige Vorstellung, daß `der' mittelalterliche Mensch schlechthin Zahlen allegorisch oder, wie es meist heißt, `symbolisch' interpretiert habe, diese Vorstellung ist genauso realistisch wie etwa die, daß `der' moderne Mensch ein Röntgengerät oder einen Computertomographen bedienen könne.

Um Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, an das Thema so heranzuführen, daß Sie sich nicht auf das Glatteis literaturwissenschaftlicher Spekulation gedrängt zu fühlen brauchen oder doch zumindest das rettende Ufer geschichtlich verifizierbarer Hintergründe immer noch im Auge behalten können, will ich im folgenden so verfahren, daß ich einen verhältnismäßig elementaren Lehrstoff mittelalterlicher Arithmetik, die Lehre von den vollkommenen Zahlen, zunächst in seinem arithmetischen Verständnis bei Boethius und in seiner bibelexegetischen Nutzanwendung bei Augustinus vorstelle, um erst dann einige Beispiele seiner Nutzanwendung im Bereich der Dichtung vorzuführen, wobei auch im Bereich der Dichtung sicherheitshalber solche Fälle den Anfang machen sollen, in denen die Autoren ausdrücklich darauf hinweisen, daß und warum sie vollkommene Zahlen für den Aufbau ihrer Dichtung verwenden.

2. Boethius

Vollkommene Zahlen, d.h. Zahlen, die gleich der Summe ihrer ganzzahligen Divisoren sind, werden im griechischen Altertum anscheinend zuerst bei Euklid behandelt und wurden dem lateinischen Mittelalter dann hauptsächlich durch die Institutio arithmetica des Boethius (m. 524) bekannt, die ihrerseits im wesentlichen eine lateinische Bearbeitung der griechischen Arithmetik von Nikomachos von Gerasa ist. Die Institutio arithmetica war die Hauptquelle der mittelalterlichen Arithmetik, an der die Gliederung und Darstellung des gesamten Lehrstoffs bis in die frühe Neuzeit orientiert blieb. Sie besteht aus zwei Büchern, von denen das erste den Unterschied zwischen geraden Zahlen, ungeraden Zahlen und Primzahlen sowie verschiedene Unterarten derselben und außerdem die Proportionen (proportiones), d.h. Arten der Gleichheit und Ungleichheit zwischen zwei Zahlen, behandelt, während das zweite Buch den Medietäten (medietates, proportionalitates), d.h. Verhältnissen zwischen zwei oder mehr Proportionen, gewidmet ist.

Die vollkommenen Zahlen, `numeri perfecti secundum partium aggregationem', werden in Buch I zusammen mit den untervollkommenen (inperfecti, deminuti, indigentes) und übervollkommenen (plus quam perfecti, superflui, abundantes) als eine Unterart der geraden Zahlen vorgestellt, die sich danach definiert, wie eine gegebene Zahl sich zur Summe (aggregatio) ihrer möglichen Teiler verhält: ist diese Summe kleiner als die Zahl selbst, so gehört die Zahl zu den `numeri inperfecti', wie z.B. die 8, bei der die Summe der Teiler 1, 2 und 4 nur 7 ergibt. Ist die Summe der Teiler dagegen größer als die Zahl selbst, so gehört die Zahl zu den `numeri plus quam perfecti', wie z.B. die 12, bei der die Summe der Teiler 1, 2, 3, 4 und 6 insgesamt 16 ergibt. Lediglich wenn die Zahl mit der Teilersumme übereinstimmt, wie im Fall der durch 1, 2 und 3 teilbaren 6, gilt die Zahl als ein `numerus perfectus'.

Boethius deutet in seiner Behandlung dieser Zahlenarten auch ein moralisierendes Verständnis, wenn er darauf hinweist, daß die untervollkommenen und die übervollkommenen Zahlen den menschlichen Lastern gleichen, weil sie genau wie diese sehr verbreitet sind und sich keiner bestimmten Ordnung unterwerfen, während `vollkommene Zahlen', die gleich menschlicher Tugend das rechte Maß, die Mitte zwischen Übermaß und Mangel, bewahren, äußerst selten sind und nach einer bestimmten Ordnung auftreten. Und Boethius deutet zugleich auch eine ästhetische Bevorzugung der vollkommenen Zahlen an, wenn er die übervollkommenen mit polymorphen Monstren aus der Mythologie wie dem aus Löwe, Drache und Mensch zusammengesetzten Geryon vergleicht, während er die untervollkommenen mit Mißgestalten vergleicht, die, wie die einäugigen Zyklopen, durch ein Zuwenig an natürlichen Körperteilen charakterisiert sind. Bei diesen Vergleichen, die Boethius bereits aus seiner griechischen Vorlage übernimmt, steht im Hintergrund die Vorstellung, daß eine Zahl einen aus Gliedern, `partes', zusammengesetzten `Körper' besitzt, so daß nur bei den vollkommenen Zahlen die Glieder in einem ausgewogenen Verhältnis zum Körper der Zahl stehen. Doch geht es Boethius nur ganz am Rande um solche moralische und ästhetische Bewertung von Zahlen, die in seiner Arithmetik auch nur an dieser einen Stelle ausnahmsweise einmal zur Sprache kommt. Sein eigentliches Anliegen ist vielmehr die Beschreibung der `Ordnung', in der die vollkommenen Zahlen auftreten und rechnerisch ermittelt werden können.

Gemeint ist mit dieser `Ordnung' das Bildungsgesetz für vollkommene Zahlen, in moderner Formulierung 2n * (2n+1-1), wobei der Ausdruck in der Klammer eine Primzahl ergeben muß. Es wird von Boethius in einem eigenen Kapitel vorgestellt, und zwar in der folgenden Weise: den Ausgangspunkt bildet die Reihe der `numeri pariter pares', d.h. gerad-gerade Zahlen (1, 2, 4, 8, 16... [2n]), deren Glieder so lange miteinander addiert werden, bis die Summe eine Primzahl ergibt. Multipliziert man diese Primzahl mit dem zuletzt addierten Reihenglied, so ergibt sich eine `vollkommene Zahl'. Boethius führt diese Berechnungsweise für die ersten drei vollkommenen Zahlen vor (1+2=3, 3*2=6; 1+2+4=7, 7*4=28; 1+2+4+8+16=31, 31*16=496), und er erwähnt auch noch die vierte vollkommene Zahl, 8128. Der geordnete Charakter ihres Auftretens ergibt sich für Boethius allerdings nicht nur aus der Möglichkeit, vollkommene Zahlen nach einer festen Regel zu bilden, sondern auch aus der auf diese vier ersten vollkommenen Zahlen abgeleiteten Regelmäßigkeit, daß im Bereich jeder Zehnerpotenz, d.h. innherhalb der 10, der 100, der 1000 und der 10.000, jeweils genau eine vollkommene Zahl auftrete, und daß diese jeweils abwechselnd entweder auf 6 oder auf 8 ende. Vermutlich darum, weil für die Auffindung von vollkommenen Zahlen die im Mittelalter rechnerisch aufwendige Bestimmung von Primzahlen erforderlich ist, wurde erst im 15. Jh. durch die Entdeckung der fünften Primzahl, 33.550.336, erkannt, daß diese Regelmäßigkeit nur für die ersten vier vollkommenen Zahlen gilt.

Boethius behandelt die vollkommenen Zahlen als eine Unterart der geraden Zahlen, stellt aber nicht die von neuzeitlichen Mathematikern untersuchten Frage, ob es auch ungerade `vollkommene Zahlen' geben könne. Rein intuitiv ist dem Nichtmathematiker eigentlich unmittelbar klar, daß ungerade Zahlen nicht genügend ganzzahlige Teiler besitzen können, um aus der Klasse der untervollkommenen Zahlen in die der vollkommenen oder sogar in die der übervollkommenen aufsteigen zu können. Hierfür auch den Beweis anzutreten ist jedoch erst in der modernen Mathematik ein Anliegen geworden und war dann der Hauptgrund, warum sich moderne Mathematiker überhaupt noch mit den vollkommenen Zahlen beschäftigen. Trotzdem findet sich auch bei Boethius eine Erörterung, die zumindest von ganz ferne in diesen Zusammenhang gehört. Denn Boethius vertritt und begründet die Auffassung, daß auch die Zahl Eins zumindest "in potentia" und "virtualiter" zu den vollkommenen Zahlen gehöre: Für Boethius ist sie das erste Glied in der Reihe der gerad-geraden Zahlen; sie ergibt, auch ohne mit vorhergehenden Reihengliedern addiert werden zu müssen oder zu können, eine Primzahl; und wenn man diese Primzahl mit dem Reihenglied, also mit sich selber, multipliziert, so ergibt sich wieder die Eins, womit diese zumindest für Boethius gemäß der Bildungsregel als vollkommene Zahl erwiesen ist. Oder doch zumindest als virtuell vollkommene Zahl, da sie ja keine ganzzahligen Teiler besitzt, deren Summe sie auch als real vollkommene Zahl erweisen könnte. Allerdings ist damit noch nicht unbedingt der Beweis einer ungeraden vollkommenen Zahl angetreten, da für Boethius die unitas Eins ebenso ja auch die erste der geraden, der ungeraden und der Primzahlen ist.

Das von Boethius in den Kapiteln 19-20 des ersten Buches der Institutio arithmetica vermittelte Lehrwissen über die vollkommenen Zahlen bildet die Summe dessen, was auch auch in den folgenden fast tausend Jahren zu diesem Thema überhaupt bekannt war und, mit manchen Kürzungen, in den arithmetischen Lehrwerken gelehrt wurde. Die Kürzungen betreffen meist das Bildungsgesetz, die moralisierende und ästhetische Deutung, und die Einordnung der Eins unter die vollkommenen Zahlen. Auch auf die Anführung der dritten und der vierten vollkommenen Zahl wurde oft verzichtet. Dieses Lehrwissen blieb fester Bestandteil innerhalb des arithmetischen Lehrstoffs, hatte jedoch innerhalb des Quadriviums keine weitere Funktion: vollkommene Zahlen sind ohne Belang für die Proportionen und Medietätenlehre der Arithmetik, sie spielen keine Rolle für geometrische oder astronomische Berechnungen und sind ebensowenig von Bedeutung für die Bestimmung der musikalischen Intervalle und Harmonien, wie sie auch in der operativen Arithmetik keine Bedeutung erlangt haben. Es handelt sich also gewissermaßen um ein Stück Arithmetik als L'art pour l'art, geeignet eigentlich nur, um Schüler damit zu quälen oder Mathematiker damit zu erfreuen.

3. Augustinus

Ihre eigentliche Bedeutung für das Mittelalter erlangten die vollkommenen Zahlen dagegen außerhalb des Quadriviums, nämlich in der Bibelexegese, wo sie seit Augustinus geradezu ein Paradebeispiel wurden für die Bestätigung des Wortes der Weisheit, daß Gott alle Dinge seiner Schöpfung nach Maß, Zahl und Gewicht geschaffen habe. Augustinus war nicht der erste, der das arithmetische Verständnis vollkommenener Zahlen auf die göttliche Schöpfung, nämlich auf den biblischen Bericht von den sechs Tagen der Weltschöpfung, anwandte. Vorausgegangen war ihm hierin vielmehr in der jüdischen Exegese Philon von Alexandrien, dessen platonisierende Bibelexegese überhaupt eine der Haupquellen für die christlichen Kirchenväter war. Aber es war Augustinus, der dieses Verständnis des Schöpfungsberichts für die lateinische Welt dauerhaft befestigte und durch die Verbindung des arithmetischen Konzepts mit dem biblischen Thema dafür sorgte, daß dieses arithmetische Konzept von hier aus für die lateinische Welt auch Bedeutung für mehr oder weniger sämliche übrigen Okkurrenzen der Zahl 6 in der Bibel, in der Geschichte und im Kosmos erlangte.

Der biblische Schöpfungsbericht, speziell die Aussage, daß Gott in sieben Tagen seine Schöpfung vollendete bzw. in sechs Tagen und dann am siebenten ruhte, bot dabei in seinen lateinischen Übersetzungen auch einen besonderen sprachlichen Anhaltspunkt für diese exegetische Tradition. Denn die von Augustinus zugrundegelegte Übersetzung der Vetus Latina verwendet hier für `vollendete' das Verb "consummavit", das eben auch als arithmetischer Ausdruck gedeutet und dann auf die Vollkommenheit der Sechszahl bezogen werden kann, von der es in der arithmetischen Fachsprache heißt: "partibus suis consummatur". Noch näher kommt der arithmetischen Fachterminologie dann die von Hieronymus geschaffene Übersetzung der Vulgata, die für `vollenden' das Verb perficere verwendet: "igitur perfecti sunt caeli et terra et omnis ornatus eorum", was beinahe schon danach verlangt, als Hinweis auf die in der Sechszahl der Schöpfungstage auch zahlhaft angelegte `perfectio' der Weltschöpfung verstanden zu werden.

Augustinus hat die arithmetische `Vollkommenheit' des Sechstagewerkes in mehreren seiner Schriften behandelt, und am ausführlichsten in seinem Kommentar De genesi ad litteram, der sich zwar auf die Erklärung des Litteralsinns weitgehend beschränkt, das arithmetische Zahlenverständnis jedoch dafür einsetzt, eine verborgene innere Ordnung der sechs Tage und der an ihnen geschaffenen Werke aufzudecken. Ausgangspunkt ist für Augustinus einerseits das Verständnis der 6 als `numerus perfectus', der sich in der Summe seiner Teiler 1, 2 und 3 wieder erfüllt, und andererseits auch das Verständnis der 6 als Dreieckszahl, die bei fortschreitender Addition eben dieser Teiler 1 plus 2 plus 3 ein gleichseitiges Dreieck von sechs Einheiten mit einer Seitenlänge von 3 Einheiten ergibt. Eben diese `vollkommene' Zusammensetzung der Zahl 6 durch ihre Teile 1, 2 und 3, und zwar in genau der fortschreitenden Reihefolge die zugleich den `numerus trigonus' ergibt, erkennt Augustinus auch in den Werken der sechs Schöpfungstage wieder (cf. Tabelle I): der erste Schöpfungstag mit der Erschaffung des Lichts, die für Augustinus zugleich die Erschaffung der himmlischen Intelligenzen impliziert, steht als `ein' Tag für sich allein. Auf ihn folgen `zwei' zusammengehörige Tage, an denen das Weltgebäude, die `fabrica mundi' geschaffen wurde: und zwar am zweiten Schöpfungstag zunächst den `oberen Bereich', das Firmament des Himmels, und am dritten Schöpfungstag den `unteren Bereich', das trockene Land und das Meer. Die letzten `drei' Schöpfungstage faßt Augustinus dann in der Weise zusammen, daß an ihnen diejenigen Geschöpfe geschaffen wurden, die sich in dieser `fabrica mundi' bewegen und sie bevölkern und schmücken sollten: am vierten Schöpfungstag zunächst wieder im oberen Bereich die Himmelskörper, Sonne, Mond und Sterne, am fünften Schöpfungstag dann im `unteren Bereich' die Tiere des Wassers und der Luft, und am sechsten Schöpfungstag schließlich die Tiere des Landes und als vollkommenstes Werk zuletzt der Mensch.

Gott hat sein Werk für Augustinus darum nach genauer Maßgabe der ewigen und unveränderlichen arithmetischen Eigenschaften der Zahl 6 geschaffen, und zwar nicht, weil er sich einer außer ihm selber befindlichen Gesetzmäßigkeit der Zahlen unterworfen hätte, sondern weil, wie Augustinus im Rahmen einer längeren philosophischen Argumentation erklärt, Gott selbst das unveränderliche Gesetz ist, daß sich in den veränderlichen Dingen als deren Maß, Zahl und Gewicht begrenzend, ordnend und formend ausprägt. Die Sechszahl ist für Augustinus darum auch nicht deshalb vollkommen oder erst dadurch vollkommen geworden, weil sie von Gott für seine Schöpfung gewählt wurde, da diese Zahl ja nicht minder vollkommen wäre, wenn die Welt stattdessen in drei Tagen erschaffen worden wäre, sondern die Sechszahl wurde von ihm gewählt, weil sie eine vollkommene ist. Die Einsicht in diese Vollkommenheit liegt insofern für Augustinus bemerkenswerterweise eher beim Arithmetiker als beim Exegeten, und dies hat später besonders bei Gregor dem Großen Protest hervorgerufen, der sich auf den unverfänglicheren Standpunkt stellte, daß die Vollkommenheit der Sechszahl letztlich nicht mit arithmetischer Weltweisheit zu erklären, sondern aus der göttlichen Wahl dieser Zahl für die Schöpfungstage hervorgehe. Auch Gregor hat aber im übrigen das betreffende arithmetische Fachwissen bei jeder sich bietenden Gelegenheit für seine Zahlenexegese instrumentalisiert und ihm so kaum weniger als Augustinus selber zu einer festen Tradition in der nachfolgenden mittelalterlichen Exegese verholfen.

Die angeführte augustinische Exegese aus De genesi ad litteram setzt das arithmetische Zahlenverständnis zunächst nur für die Deutung des Litteralsinns und für daran anknüpfende theologisch-philosophische Überlegungen ein, nicht aber auch schon für die allegorische Exegese, da die sechs Tage hier noch nicht als Zeichen für andere Dinge interpretiert werden. Für sein allegorische Verständnis der sechs Schöpfungstage kann dagegen eine Stelle aus dem vierten Buch von De trinitate herangezogen werden. Hier führt Augustinus bei der Erläuterung der arithmetischen `Vollkommenheit' der Sechszahl den biblischen Schöpfungsbericht als erstes von mehreren biblischen Zeugnissen an, wobei er diesmal nicht auf den internen Ordo aller sechs Schöpfungstage besonderen Wert legt, sondern darauf, daß das vollkommenste Werk, der `ad imaginem Dei' geschaffene Mensch, am sechsten Tage erschaffen wurde. Diesmal schreitet Augustinus jedoch von diesem noch litteralen Verständnis weiter fort zu einem allegorischen Verständnis (cf. Tabelle II), indem er die sechs Tage der Schöpfung interpretiert als Präfiguration der sechs Weltalter, in denen sich die gesamte irdische Geschichte vollzieht, und die nach einer schon an jüdisches Vorstellungsgut anknüpfenden Tradition unterschieden werden als Weltalter Adams, Noahs, Abrahams, Davids, der babylonischen Gefangenschaft und -- als sechstes und gegenwärtiges -- das Weltalter Christi. Indem Augustinus diese Sechsteilung der `aetates mundi' zugleich mit dem ebenfalls die gesamte Weltgeschichte umspannenden, aber nur dreiteiligen Schema der `tria tempora' in Einklang bringt, deckt er innerhalb der sechs Weltalter eine arithmetisch `vollkommene' Untergliederung in diesmal zwei plus drei plus ein Weltalter auf: denn die ersten zwei Weltalter (Adam und Noah) entsprechen der Zeit vor dem Gesetz; die folgenden drei (Abraham, David, babylonische Gefangenschaft) entsprechen der Zeit unter dem Gesetz, die hier mit Abraham statt mit Moses beginnen darf, da im Bund mit Abraham erstmals die Beschneidung eingesetzt wurde; und diese drei folgt als letztes und Siegel der Vollkommenheit das Weltalter Christi, in dem mit Christus als dem zweiten Adam die Zeit der Gnade begann.

4. Alkuin

Wie schon gesagt haben solche Deutungen des Sechstagewerkes die gesamte bibelexegetische Deutung der Sechszahl überaus nachhaltig geprägt, wobei in der nachfolgenden Tradition zuweilen besonderes Gewicht auf gelegt wurde auf Beziehungen zur Passion Christi, die sich im sechsten Weltalter, am sechsten Wochentag, zwischen der sechsten und der neunten Stunde des Tages, mit dem Wort "consummavi" vollendete. Um nun auch der mittelalterlichen Nutzanwendung dieses Zahlenverständnisses im Bereich der Dichtung nachzugehen, sei als erstes ein Gedicht von Alkuin (m. 804) angeführt, das dieser in seinem teils in Prosa, teils in Versen von der Unsterblichkeit der Seele handelnden Brief an Gundrada, eine Verwandte Karls des Großen, beigefügt und dort auch noch mit einer kurzen Prosaerklärung versehen hat (Übers. P. Klopsch):

I
Te homo laudet,
alme creator,
pectore, mente,
pacis amore;
non modo parva
pars quia mundi est.


Dich lobe der Mensch,
begabender Schöpfer,
im Herzen und im Geiste,
in Liebe zum Frieden;
ein nicht eben geringer
Teil des Alls ist er ja.

II
Sed tibi sanctae
solus imago
magna, creator,
mentis in arce,
pectore puro
dum pie vivit.


Vielmehr ist er allein
dein großes Ebenbild,
Schöpfer, in des Heiligen
Geistes Burg,
wenn er reinen Herzens
nur in der Ehrfurcht lebt.

III
O deus et lux
laus tua semper
pectora et ora
conpleat ut te
semper amemus,
sanctus ubique.


O Gott und Licht,
dein Preis möge stets
Herzen und Münder
erfüllen, auf daß wir dich
stets lieben,
Heiliger, Allgegenwärtiger.
IV
Haec pia verba,
virgo fidelis,
ore caneto,
ut tua mitis
tempora Christus
tota gubernat.


Diese frommen Worte,
gläubige Jungfrau,
laß in deinem Munde erklingen,
auf daß der sanfte
Christus dein ganzes
Leben leite.

V
Qui tibi solus
sit, rogo, semper
lux, amor atque
forma salutis,
vita perennis,
gloria perpes.


Er sei allein dir,
bete ich, allezeit
Licht, Liebe und
Urbild des Heils,
ewiges Leben,
immerwährender Ruhm.

VI
Te cui castum
corpore, mente
dirige templum,
dulcis amica,
et sine semper
fine valeto.


Ihm weihe dich
als keuschen Tempel
in Leib und Geist,
süße Freundin,
und allzeit und ewig
lebe wohl!

Hoc carmen tibi cecini senario numero nobili, qui numerus perfectus est in partibus suis, te optans esse perfectum in sensibus tuis. Cuius numeri rationem, sicut et aliorum, sapientissimus imperator tuae perfacile ostendere potest sagacitati. Dieses Gedicht habe ich dir in der edlen Sechszahl gesungen, die vollkommen ist in ihren Teilen, weil ich wünsche, daß du vollkommen seiest in deinen Sinnen. Was es mit dieser wie auch mit anderen Zahlen auf sich hat, wird der allerweiseste Kaiser deinem lernbegierigen Verstande mit Leichtigkeit darlegen können.

Die Prosaerklärung macht unmißverständlich deutlich, daß es das arithmetische Verständnis der Sechszahl als `numerus perfectus in partibus suis' ist, das Alkuin dem Formenbau seiner sechs mal sechs Verse zugrundegelegt hat. Dieser arithmetischen Vollkommenheit des Liedes wird zugleich eine moralisch vervollkommnende Wirkung auf die Sinne der Empfängerin Gundrada zuerkannt, wobei diese Wirkung jedoch nicht als eine allein von der zahlhaft gegliederten Materialität der Verse ausgehende vorzustellen ist, sondern als eine Wirkung, die im Zusammenspiel zwischen dieser zahlhaften Form und der davon stimulierten geistlichen Betrachtung entsteht. Was es mit der Sechszahl für Alkuin sonst noch `auf sich hat' wird dann zwar sehr höflich der Erklärung des großen Karl überlassen, aber ein wenig davon können wir davon doch auch ohne kaiserliche Hilfe bei Betrachtung des Textes erkennen. Dort sehen wir, daß die Wahl der Sechszahl auch thematisch motiviert ist: denn Thema ist das Lob Gottes für seine Erschaffung des Menschen als eines geistbegabten, gottebenbildlichen Wesens, und damit das Werk des sechsten Schöpfungstages. Und Anliegen des Gedichts in Bezug auf die Empfängerin ist es, deren ganzes Leben, "tua tempora", unter das Lob dieses Schöpfers zu stellen. In der Formulierung "tua tempora" mußte für den exegetisch kundigen Leser der Zeit ein weiteres aus der Exegese der Sechszahl vertrautes Thema anklingen: wie nämlich die Geschichte der Welt sich in sechs Weltaltern vollendet, so vollendet sich auch in sechs Lebensaltern das Leben des einzelnen Menschen, die hierbei als infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, senectus und decrepitas eingeteilt wurden. In Hinsicht auf den Aufbau des Gedichts kann man nun fragen, ob sich dort ähnlich wie laut Augustinus im Ordo der sechs Schöpfungstage die arithmetische Vollkommenheit der Sechszahl durch eine signifikante Ordnungsfunktion der Teiler 1, 2 und 3 niedergeschlagen hat. An der rein formalen Gliederung in sechs Strophen zu je 6 adonischen Versen ist dies nicht zu erkennen. Aber berücksichtigt man auch die thematische Untergliederung, so scheint mir in der Tat eine arithmetisch `vollkommene' Gliederung vorzuliegen. Deutlich ist zunächst ein klarer Einschnitt in der Mitte des Gedichts, da die ersten drei Strophen Gott apostrophieren, während die letzten drei Strophen sich der Adressatin Gundrada zuwenden und hierbei auch die erste Gedichthälfte noch einmal zusammenfassend als "haec pia verba" bezeichnen. Aber auch innerhalb der ersten Gedichthälfte ist eine Untergliederung erkennbar: die beiden ersten Strophen sind durch die Konstruktion `non modo parva pars mundi, sed imago magna' zu einer zusammengehörigen Gruppe geordnet, von der sich die dritte Strophe absetzt durch die einleitende Apostrophe `O deus et lux' und durch den Wechsel von der unpersönlichen Aussage über den Menschen zu einer `wir'-Aussage der Menschen, in der der lyrische Sprecher sich selber einschließt. Es scheint demnach, daß eine Untergliederung der 6 in (2+1)+3 Strophen beabsichtigt ist, die die arithmetische Vollkommenheit der Sechszahl auch in der Untergliederung des Liedes widerspiegelt.

5. Hrabanus Maurus

Auch Alkuins Schüler Hrabanus Maurus (m. 856) hat nicht nur in seinen exegetischen und enzyklopädischen Schriften vielfach auf das arithmetische Verständnis `vollkommener' Zahlen zurückgegriffen, sondern dieses Verständnis auch in seinen Gedichten in Anwendung gebracht und dies dabei dann meist durch explizite Deutungshinweise dem Leser signalisiert. Am eindrucksvollsten geschieht dies in seinem Werk De laudibus sanctae crucis, einem Zyklus von 28 Figurengedichten, denen in der Einleitung noch zwei weitere Figurengedichte sowie verschiedene andere metrische Stücke vorangestellt sind. Bei diesen Figurengedichten, die eine bereits spätantike Technik aufgreifen und weiterentwickeln, handelt es zunächst jeweils um einen in Hexametern verfaßten `Grundtext', dessen Verse ohne Wortzwischenräume geschrieben sind und innerhalb eines Gedichts stets die gleiche Buchstabenzahl aufweisen, so daß der Grundtext eine quadratische oder rechteckige Textfläche bildet. Dem Grundtext sind jeweils sogenannte `versus intexti' eingearbeitet, `eingewebte Verse', nämlich vertikale, diagonale oder sonst von der normalen Leserichtung abweichende Buchstabensequenzen, die ihrerseits Verse oder Sätze ergeben und durch ihren in den Handschriften auch farblich hervorgehobenen Verlauf dem Grundtext eine figürliche Darstellung des Kreuzes Christi oder verwandter Gegenstände einzeichnen. Diese von den `versus intexti' gebildete eigentliche `figura' ist jeweils in ihrer geometrischen Form und zum Teil auch in der Zahl ihrer Buchstaben oder Teilfiguren auf biblische und bibelexegetische Zahlenvorgaben gegründet, die der Autor für jedes Gedicht in einer eigenen, dem Gedicht auf der gegenüberliegenden Handschriftenseite jeweils nachgestellten `declaratio' in Prosaform erläutert hat. Außerdem ist im zweiten Buch des Werkes noch einmal der hexametrische Grundtext jeder Figur in eine Prosaparaphrase aufgelöst, was auch sehr nötig ist, da die hexametrischen Grundtexte selber sich mehr um die je erforderliche Plazierung einzelner Buchstaben als um Verständlichkeit bemühen.

Das arithmetische Verständnis `vollkommener Zahlen' kling in mehreren dieser Figurengedichte und ihrer Prosaparaphrasen an und ist am anschaulichsten in in Figur XXIII gestaltet:

Die Anknüpfung an das arithmetische Verständnis der Sechszahl wird hier nicht erst durch die beigefügte Prosa-Erklärung deutlich gemacht, sondern bereits durch die Aussagen des Grundtextes. Nicht weniger als sieben mal erscheint im Grundtext das Wort `perfectus', einmal im Plural ("perfecta" v.29) und sechs mal im Singular, wobei die sechs Singularformen vielleicht nicht zufällig einmal feminin ("perfectae" v.27), zweimal maskulin ("perfectus" v.12, "perfectum" v.29) und dreimal neutrum ("perfectumque" v.5, "perfectumque" v.26, "perfecto" v.26) sind. Der Grundtext sagt über die Zahl 6 ausdrücklich: `sie strahlt hervor unter den Zahlen und ist selbst die erste vollkommene (unter ihnen)' ("Sex micat in numeris perfectus primus et ipse est", v.12), und er weist diese Zahl in der Figur speziell den `dreizeilig angeordneten sechs Monaden' zu, die an den vier Enden des Lilienkreuzes blütenähnlich die Bezeichnungen Christi FORTIS, VIRTUS, VICTOR und CLARUS bilden. Diese vier mal sechs Buchstaben, so sagt der Grundtext, zeigen an, daß allen Dingen der Schöpfung, den vom Vater geschaffenen und den vom Sohn erlösten, eine vollkommene Schönheit innewohnt, und diese Beziehung der Zahlen 4 und 6 zur Schöpfung wird im weiteren dann durch Hinweise auf die vier Weltgegenden (Himmelsrichtungen) und auf die zeitliche Einteilung des Tages (4 mal 6 Stunden), des Jahres, des Monats und des Schaltviertels sowie der sechs Weltalter hervorgehoben. Auch seinem Lehrer Alkuin als Vorgänger in der literarischen Anwendung der vollkommenen Sechszahl hat Hrabanus hier offensichtlich seine Referenz erwiesen: denn in v.32 die Formulierung "nos homines in rebus portio parva" evoziert augenscheinlich - und überbietet in ihrer vergleichsweisen Bescheidenheit - die Formulierung aus Alkuins Gedicht an Gundrada "non modo parva / pars (...) mundi est (sc. homo)" (v.5s.). Und deutlicher als dies in Alkuins mutmaßlicher Untergliederung seines Gedichts in (2+1)+3 Strophen geschieht, hat Hrabanus auch die besonderen arithmetischen Eigenschaften der Zahl Sechs im Bau seiner Figur illustriert: denn die sechs Buchstaben an den Enden der Kreuzbalken versinnfälligen durch ihre Anordnung als 3+2+1 bzw. 1+2+3 sowohl die `vollkommene' Bildung der 6 aus ihren Teilern wie auch das Verständnis dieser Zahl als `numerus trigonus'.

Natürlich ist es dann auch kein Zufall, daß der gesamte Zyklus abzüglich der Praefatio und der Prosastücke genau 28 carmina figurata enthält. Hrabanus weist hierauf selber in der Erklärung des 28. dieser Gedichte ausdrücklich hin:

Die Zahl 28 in ihrer arithmetischen `Vollkommenheit' wird somit thematisch der `Vollkommenheit' des Kreuzes und, in Anspielung auf das Wort "consummavi", der Vollendung des Heilswerkes in der Passion Christi assoziiert. Aber wie schon in Alkuins Prosaerklärung ist damit noch längst nicht alles über die Bedeutung des arithmetischen Zahlenverständnisses für den Aufbau des Werkes gesagt. Denn wie erst 1975 durch den Germanisten Burkhard Taeger entdeckt wurde, ist auch die Binnengliederung des Zyklus auf dieses Zahlenverständnis gestützt. Das Gliederungskriterium ist hierbei ein rein formales, nämlich die Buchstabenzahl der Gedichte pro Vers. Diese Zahl variiert zwar nicht innerhalb des einzelnen Gedichts, aber sie variiert von Gedicht zu Gedicht, und zwar in der Weise, daß (cf. Tabelle VIII)

zu unterscheiden sind. Durch die formale Differenzierung von 1, 2, 4, 7 und 14 Gedichten wird somit der `vollkommenen' Erfüllung der 28 durch ihre ganzzahligen Teiler im Aufbau des Zyklus Rechnung getragen. Selbst wenn Hrabanus in der letzten Prosaerklärung nicht eigens auf das zugrundeliegende arithmetische Verständnis hingewiesen hätte, wäre dieses doch durch die Entdeckung Taegers in seiner konstitutiven Bedeutung für den Gesamtaufbau eindeutig nachweisbar.

 

6. Dante

Bei den bisher angeführten Beispielen, Alkuin und Hrabanus, handelt es sich jeweils um lateinische Autoren, die, zumindest im Frankenreich, zu den gelehrtesten Männern ihrer Zeit gehörten und zugleich höchste Ämter innehatten: Alkuin war von Karl nach Tours zum Leiter der Hofschule berufen worden und spielte eine entscheidende Rolle bei den politischen und bildungspolitischen Reformen, die wir heute als `karolingische' Reform bezeichnen. Und sein Schüler Hrabanus wirkte nach dem Besuch der Hofschule zunächst als Lehrer und Abt in Mainz und wurde dann auf Veranlassung Ludwigs des Deutschen, dem die offiziöse Fassung des Liber de laudibus sanctae crucis gewidmet ist, Erzbischof von Mainz. Die Leser, denen ihre Werke zugedacht sind, sind abgesehen von den fürstlichen Adressaten die Gelehrten und Kirchenmänner des Frankenreiches, so gewiß auch im Fall von Alkuins Brief an Gundrada, der nicht als eine Art Privatpost zu verstehen ist, sondern vielmehr, wie die Prosa-Erklärung zeigt, am Hof Karls zur Kenntnis genommen werden sollte und außerdem auch darüber hinaus in gelehrten Kreisen zirkulierte, wie die Anspielung in Hrabans Figurengedicht vermuten läßt. Beide Werke wurden somit in einem Milieu verfaßt und rezipiert, in dem das Verständnis ihres Zahlenbaus den Lesern keine allzugroßen Schwierigkeiten bereitet haben dürfte, zumal die Autoren jeweils ausdrücklich auf die gelehrten Verständnisgrundlagen dieses Zahlenbaus hinweisen. Gleichwohl gehört zur geistlichen Interpretation, wenn sie durch einen hierzu befähigten Leser vorgenommen werden soll, auch eine gewisse geistige Eigenleistung beim Durchdringen des äußeren Anscheins und Erkennen der verborgenen Ordnung und ihres Sinns, und um diese Eigenleistung als solche zu ermöglichen, hat besonders Hrabanus und bis zu einem gewissen Grad auch Alkuin Vorsorge getroffen, indem sie mit ihren Deutungshinweisen zwar die Richtung weisen, aber den Leser doch nicht schon zu jeder Einzelheit des Formenbaus zuverlässig hinzuführen. Etwas anders verhält es sich bei meinem letzten Beispiel, der Commedia Dantes, die fast ein halbes Jahrtausend später zwar immer noch in vieler Hinsicht aus den gleichen Quellen schöpft wie die Werke der karolingischen Zeit, aber doch unter wesentlich anderen Bedingungen verfaßt wurde. Ihr Autor, der einer durch Geld- und Grundstücksgeschäfte zu Reichtum gekommenen Bürgersfamilie in Florenz entstammte, hatte einen für seine Herkunft recht ungewöhnlichen Bildungsgang zurückgelegt, über den wir kaum genaue Einzelheiten wissen, außer daß er bereits in seiner Jugend Beziehungen zur Elite der volkssprachlichen Dichter des `Dolce Stil Nuovo' anknüpfte und bei ihnen als Fortsetzer ihrer philosophierenden und spiritualisierenden Liebesdichtung große Anerkennung fand; daß er ferner, wie er selber mitteilt, Schulen der Theologen und Philosophen besuchte, womit wahrscheinlich die Studia der beiden Bettelorden in Florenz gemeint sind; und daß er vermutlich auch die Universität in Bologna und vielleicht sogar die Pariser Universität besuchte, obwohl beides sich nicht mit Sicherheit nachweisen läßt. Der Erwerb von Wissen und Wissenschaft war für Dante programmatisch nicht ein Mittel zur Erlangung von Ämtern und zur Sicherung des Broterwerbs, sondern eine dem Menschen aufgegebene Bestimmung, seine Vernunftanlage zu vervollkommnen und bei entsprechenden Fortschritten auf diesem Gebiet auch die geistige Führung seiner minder entwickelten, weil in Tagesgeschäften verstrickten Mitmenschen zu übernehmen. Es ist fraglich, ob je ein Dichter seinen Auftrag zur Erziehung und Führung der Menschheit so ernst genommen und mit so viel Geist erfüllt hat. In der politischen Führung allerdings war ihm wenig Erfolg beschieden: seine kurze politische Karriere als Mitglied des Rates seiner Vaterstadt endete mit einem Fiasko und seiner lebenslangen Vertreibung aus Florenz, und seine anschließenden Versuche, während des Exils als Propagandist des Kaisertums Einfluß auf die Mächtigen seiner Zeit und auf die Geschicke der Christenheit auszuüben blieben im wesentlichen Literatur.

Seinem Programm entsprechend schrieb Dante sein Hauptwerk, die Commedia, in der Volkssprache, in der Absicht, ein möglichs breites Publikum von Lesern und Hörern zu erreichen, aber dabei unterschied er doch innerhalb dieses Publikums sehr genau zwischen einer Mehrzahl von Lesern oder Hörern einerseits, die keine wissenschaftliche Vorbildung besaßen, und einer Minderzahl von `happy few' oder `beati pochi' andererseits, die, wie er sagt, frühzeitig den Hals nach dem `Brot der Engel' gereckt hatten. Die Danteforschung tut sich seit jeher schwer damit, von dieser zweischneidigen Lesererwartung nicht nur die eine Seite wahrzunehmen, d.h. die didaktische Seite des Werks, die die breite Menge einbezieht und ihr Wissen zu vermitteln sucht, sondern auch die elitäre Haltung zu berücksichtigen, die bei einer bevorzugten Minderzahl von Lesern spezifisches Wissen bereits voraussetzt. Zu den distinktiven Merkmalen dieser Minderzahl gehörte neben theologischen, philosophischen und allgemein profanwissenschaftlichen Kenntnissen nicht zuletzt auch die Fähigkeit, mit Zahlen und mit deren von der Tradition fixierten Verständnis interpretierend umzugehen und dabei jene geistige Eigenleistung des Lesers aufzubringen, auf die auch schon Hrabanus beim Aufbau seines Zyklus vertraut hatte.

Anders als Alkuin und Hrabanus hat Dante das arithmetische Verständnis `vollikommener' Zahlen nie explizit, in lehrhaften Aussagen, thematisiert. Zwar spricht er einmal von der Zahl 10 als `numero perfetto', doch greift er hierbei auf einen anderen, ebenfalls verbreiteten Sprachgebrauch zurück, der die Zehnzahl in pythagoräischer oder neo-pythagoräischer Tradition aufgrund ihrer Ableitbarkeit aus der Tetraktys, d.h. als Summe der Zahlen 1 bis 4, als `vollkommene' Zahl bezeichnet. Das uns interessierende Verständnis klingt jedoch wenigstens einmal bei Dante auch terminologisch an, an einer Stelle, die zugleich auch bereits illustrieren kann, wie bei Dante selbst in scheinbar nur lehrhaften Aussagen die Vermittlung gelehrten Vorstellungsgutes einerseits, und zugleich die Voraussetzung solchen Vorstellungsgutes bei einer Minderzahl seiner Leser andererseits zusammenwirken können. Es handelt sich um eine Rede des heiligen Bernhard im Paradiso, in der dieser erläutert, wie sich die Voraussetzungen für die Erlösung des Menschen im Lauf der Menschheitsgeschichte änderten ( Pd 32,76-84, cf. Tabelle I):

Was Bernhard als Sprecher Dantes hier unterscheidet, sind also zunächst einmal die `tria tempora', d.h. die Zeit vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade. Aber daß hierbei die Zeit vor dem Gesetz im Plural als "prime etadi" bezeichnet wird, und daß außerdem das in Zeit der Gnade für die Erlösung bedingende Sakrament der Taufe als "battesmo perfetto di Cristo" bezeichnet wird, weist darauf hin, daß Dante exakt in der gleichen Weise wie Augustinus in De trinitate die drei Weltzeiten in ihrer Kongruenz zu den sechs `aetates mundi' voraussetzt und hierbei durch den Terminus "perfetto" auch die zahlhafte Vollkommenheit dieser Zeiteinteilung signalisiert.

Auch an manchen anderen Stellen kann man zumindest vermuten, wenn auch vielleicht nicht ganz sicher sein, daß Dante mit dem fraglichen arithmetischen Konzept operiert. Die eindrucksvollste Adaption des arithmetischen Konezpts findet sich jedoch im 28. Gesang des Inferno, wiewohl das in der Zahl 28 potentiell signalisierte Thema der `Vollkommenheit' auf den ersten Blick nirgendwo so ferne zu liegen scheint wie in diesem grausamsten und blutrünstigsten unter Dantes Höllengesängen, der den Menschen nicht in seiner Gottebenbildlichkeit als Krone der Schöpfung, sondern verstümmelt und zerstückelt vor Augen führt, und der auch die Menschheitsgeschichte nicht als einen auf vorbestimmte Ordnung gegründeten Weg zum Heil, sondern als eine einzige Folge von Kriegen und Katastrophen evoziert. Thema dieses Gesangs ist der Aufenthalt am Strafort der "seminator di scandalo e di scisma", Anstiftern religiöser, politischer und familiärer Zwietracht, die von einem Teufel mit einem Schwert verstümmelt werden, `gespalten' werden, wie einer der Verdammten sagt. Der Teufel ist an einem festen Punkt des ringförmigen Grabens aufgestellt und treibt die Verdammten mit den Schlägen seines Schwertes an sich vorüber, und die Wunden, die diese dadurch erhalten, heilen beim Durchlaufen des Grabens jedesmal wieder zu, um nach Vollenden der Kreisbahn von neuem geschlagen zu werden. Aus der ungezählten, laut Vergil unzählbaren Menge von Verdammten, die diesen Graben durchlaufen, werden im Verlauf des Gesangs genau sechs mit ihren Namen und ihren individuellen Verstümmelungen vorgestellt.

Als erster erscheint Mohammed, der Begründer des Islam, geborsten, wie es heißt, vom Kinn bis zum After, mit zwischen den Beinen hängenden Eingeweiden. Von Mohammed beiläufig erwähnt wird auch sein Vetter und Schwiegersohn Ali, der mit vom Kinn bis zum Haaransatz gespaltenem Gesicht weinend vor Mohammed her durch den Graben läuft, also auf der Ebene des erzählten Geschehens eigentlich noch vor Mohammed anzusetzen und als erster zu zählen ist. Im Anschluß an Mohammed gibt sich Pier da Medicina zu erkennen, ein geschichtlich obskurer, früherer Bekannter Dantes, dem die Kehle durchstochen und die Nase und ein Ohr abgeschnitten sind. Von Pier vorgestellt, auf Verlangen Dantes, wird sodann Curio, der Ratgeber Caesars im römischen Bürgerkrieg, dem die Zunge aus dem Hals geschnitten ist. Im Anschluß hieran präsentiert sich Mosca Lamberti, ein Florentiner Ghibelline, der sich schuldig bekennt, den Ausbruch der Florentiner Parteienkämpfe verursacht zu haben, und dem beide Hände abgeschlagen sind. Und als letzter schließlich präsentiert sich Bertran de Born, der von Dante anderweitig als vorbildlicher Dichter der Waffen gerühmte Trobador und Herr der Burg Autafort, der in diesem Höllengraben sein abgeschlagenes Haupt `wie eine Laterne' in der Hand trägt und sich schuldig bekennt, Jungheinrich von England und dessen Vater Heinrich II. gegeneinander aufgeheztzt zu haben. Erst zu Beginn des darauffolgenden Gesangs, im Rahmen eines epilogartigen Nachspiels, erwähnt Vergil auch noch ohne Angabe einer besonderen Form der körperlichen Strafe auch noch einen siebten Verdammten, den Dante an diesem Ort eigentlich besonders anzutreffen erwartet hatte, und den er dennoch, gebannt in seiner Aufmerksamkeit durch Bertran de Born, übersehen hatte: es handelt sich um Dantes Verwandten Geri del Bello, der eine Blutrache verübt und seinerseits einer seither ungerächt gebliebenen Blutrache zum Opfer gefallen war: während Dantes Begegnung mit Bertran de Born war auch Geri del Bello, wie Vergil erzählt, unbemerkt aus der Menge der Sünder herausgetreten und hatte drohend mit dem Finger auf seinen unachtsamen Großneffen gezeigt.

Da der Jenseitsbesucher ungewöhnlich lang am Rand des Grabens verharrt und auf die Verdammten herabschaut, drängt Vergil zum Weitergehen und bemerkt ironisch: `wenn du sie zählen zu können glaubst, bedenke, daß das Tal sich zweiundzwanzig Meilen weit im Kreis hinzieht'. Die Stelle hat die mathematisch interessierten unter Dantes Kommentatoren seit jeher begeistert, weil 22/7 einer der im Mittelalter geläufig gewesenen Annäherungswerte für Pi war und man deshalb gemeint hat, daß aus dieser und einer ähnlichen Parallelstelle genauer Aufschluß über die geometrischen Maße von Dantes Höllentrichter abzuleiten sei. Interessanter für das Verständnis des 28. Gesangs erscheint jedoch der Gedanke, die Sünder zu zählen. Mit ihren Namen und persönlichen Strafen dargestellt werden im 28. Gesang, wie schon gesagt, genau sechs Verdammte. Wendet man die klassifizierenden Deutungsverfahren an, mit denen die allegorische Bibelexegese signifikante sachliche Eigenschaften biblischer Personen zu bestimmen pflegte, so lassen sich diese sechs Sünder auf mehrfache Weise als einer, zwei und drei unterteilen, wobei hauptsächlich zwei arithmetisch `vollkommene' Ordnungsschemata auftreten, nämlich BBCCCA (also zwei plus drei plus eins), und, etwas komplizierter, BBCACC (cf. Tabelle V)

Nach ihrer geographischen Herkunft lassen sie sich, in dieser Reihenfolge, als zwei Araber, drei Italiener -- mit dem Römer und Hauptstädter Curio in der Mittelposition -- und ein Südfranzose unterscheiden. Diese Anordnung deckt sich zugleich mit ihrer moralischen Qualifizierung, wenn man sie als zwei Anstifter religiöser Zwietracht, drei Anstifter politischer Zwietracht (falls auch Pier da Medicina in diesem Sinn zu verstehen ist), und einen Anstifter innerfamiliärer Zwietracht unterscheidet. Mit dieser moralischen Einteilung deckt sich ferner auch ein distinktives Merkmal ihrer körperlichen Strafe: Mohammed und Ali sind jeweils durch vertikale Spaltung des Leibes, des Rumpfes im Fall Mohammeds und des Gesichts im Fall Alis, gestraft; die Mittelgruppe der Italiener und politischen Zwietrachtstifter ist mit Durchstoßen oder Abschlagen und Verlust einzelner Organe gestraft, die ihrerseits eine Gruppe von 3+1+2 Wunden ergeben; und Bertran de Born schließlich, der sein abgeschlagenes Haupt nicht einbüßt, sondern dieses Blicke, Seufzer und Worte aussendende Haupt immer noch in der Hand trägt, ist durch eine horizontale Spaltung des Leibes am Hals gestraft, das heißt an genau der Stelle, an der die komplementären vertikalen Spaltungen Mohammeds und Alis ihren Ausgang nehmen, so daß diese drei leiblichen Spaltungen zugleich die Figur eines Kreuzes ergeben, das das teuflische Schwert den Leibern Mohammeds, Alis und Bertrans einschreibt.

In den bisher genannten Fällen ergibt sich jeweils das Ordnungsmuster zwei plus drei plus eins oder BBCCCA, das wir auch schon aus der traditionellen Einteilung der sechs Weltalter kennen, hier jedoch nicht auch mit der chronologisch geschichtlichen Herkunft oder mit der Religionszugehörigkeit der sechs Sünder übereinstimmt. Legt man die letztere zugrunde, so ergibt sich vielmehr das kompliziertere Schema BBCACC, denn es handelt sich um zwei Muslims oder, allgemeiner gefaßt, Anhänger der Beschneidung, ferner um drei Christen und schließlich, plaziert zwischen den ersten und den zweiten dieser Christen, einen einzigen Heiden der antiken Zeit. Das zeitliche Verhältnis von fünf vorchristlichen Weltaltern und einem christlichen ist also allenfalls in genau invertierter Form, durch einen Vertreter der vorchristlichen Ära und fünf Vertreter der christlichen Ära, repräsentiert. Auch eine zeitliche Feineinteilung innerhalb der Vertreter der christlichen Ära läßt sich hierbei beobachten, da Mohammed und Ali, die beiden Anhänger der Beschneidung, dem 6./7. Jh. angehören, wärend die drei Christen dem 12./13. Jh. angehören, also ein deutlicher zeitlicher Abstand zwischen beiden Untergruppen liegt. Dasselbe Schema BBCACC findet sich schließlich auch noch ein weiteres mal, wenn man die sechs Sünder geographisch nicht mit Rücksicht auf ihre Herkunftsländer, sondern mit Rücksicht auf ihren Sterbeort analysiert und hierbei das für das heilsgeschichtliches Denken Dantes zentrale Einteilungsprinzip der drei Weltteile oder Kontinente in Anschlag bringt. Denn während bei den übrigen fünf Sündern zwischen Herkunftsort und Sterbeort nicht besonders unterschieden werden muß, war Curio zwar ein Römer, Italiener und Europäer, aber er starb nicht in Europa, sondern in Afrika, wohin er von Caesar als Führer der afrikanischen Truppen entsandt worden war und dann durch seinen Leichtsinn eine vernichtende Niederlage gegen im Tal von Zama verschuldete, bei der er selber den Tod fand. Dieser in Dantes Quelle, dem Bürgerkriegsepos Lukans, breit geschilderte Tod und sein Schauplatz werden im Text des Gesangs nicht ausdrücklich erwähnt, aber sie spielen in Dantes anderweitigen geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Aussagen eine bedeutsame Rolle, so daß es gerechtfertigt scheint, sie auch hier für die Deutung des Aufbaus in Betracht zu ziehen: es ergibt sich dann eine Folge nicht von zwei Asiaten und vier Europäern, sondern eine zahlhaft vollkommene Folge von sechs Person, die zweimal Asien, drei mal Europa und einmal Afrika besonders zugeordnet werden können.

Nicht nur die sechs Verdammten, sondern auch ihre insgesamt sechs an Dante gerichteten Reden ergeben einen `numerus perfectus', der diesmal auch als `numerus trigonus', nämlich als Anordnung eins plus zwei plus drei gedeutet werden kann (Tabelle IV). In der ersten dieser Reden beschreibt Mohammed die Anlage des Grabens und spricht den ihm unbekannten Jenseitsbesucher an als die Seele eines Toten, der neugierig auf dem Rand des Grabens verweile, um den Antritt der eigenen Strafe hinauszuzögern. Nachdem Vergil daraufhin die Rolle Dantes als lebender, schon bei Lebzeiten zur Schau des Jenseits berufener Mensch vorgestellt hat, bleiben `mehr als hundert' Verdammte staunend stehen, und ihre Aufmerksamkeit richtet sich von nun auf Dinge der irdischen Welt, als deren Repräsentant Dante so unerwartet vor ihnen steht. In seiner zweiten Rede bittet Mohammed den Jenseitsbesucher, eine prophetische Warnung an den Häretiker Fra Dolcino zu überbringen, um diesem einen militärischen Ratschlag für seinen bevorstehenden Kampf gegen die römische Kirche zu erteilen. Eine prophetische Botschaft will dann als nächster, in der dritten Rede, auch Pier da Medicina überbringen lassen, nämlich an zwei Edelleute der Stadt Fano, die er vor einem Mordplan des einäugigen Herrn von Rimini warnen lassen will. Im Unterschied zu diesen zwei prophetischen Reden über künftige Zwietrachtfälle der Geschichte wenden die letzten drei Reden sich dann vergangenen Vorfällen dieser Art zu: auf Verlangen Dantes stellt zunächst Pier da Medicina den neben ihm stehenden Curio und dessen Rolle als Ratgeber Caesars beim Ausbruck des römischen Bürgerkrieges vor; im Anschluß hieran stellt Mosca Lamberti seine eigene Rolle beim Ausbruch des Florentiner Bürgerkrieges vor; und zuletzt schließlich erinnert Bertran de Born an seine Zwietrachtstiftung in der englischen Königsfamilie und greift auch noch weiter in die geschichtliche Vergangenheit zurück, wenn er sich in seiner Rolle als Ratgeber Jungheinrichs vergleicht mit Achitophel, dem Ratgeber Absaloms bei dessen Rebellion gegen David. Wir finden also eine ganz auf die gegenwärtigen und ewigen Verhältnisse der jenseitigen Welt beschränkte Rede gefolgt von zwei Prophezeiungen künftiger Dinge und drei Reden, die sich auf die irdische Vergangenheit richten, so daß die Trias von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit die insgesamt sechs Reden der Sünder als einen `numerus perfectus' oder `numerus trigonus' organisiert.

Ebenso wie die Personen und Reden der Sünder sind schließlich auch die Gesten, mit denen sie ihre Wunden vorweisen, als `numerus perfectus' deutbar (Tabelle VI). Ali bildet hier einen Sonderfall, da er sich dem Jenseitsbesucher nicht vorstellt, sondern von Mohammed nur kurz erwähnt wird, doch da er laut Mohammed `weinend', "piangendo" vor ihm her durch den Graben läuft, kann man dieses Weinen möglicherweise als eine mimische Hervorhebung seines gespaltenen Gesichts einstufen. In den folgenden drei Fällen geschieht das Weisen der Wunden jeweils als ein Öffnen, im Text jeweils durch das Verb "aprire" bezeichnet: Mohammed öffnet sich mit beiden Händen die gespaltene Brust; Pier da Medicina öffnet, wenn auch nicht ausdrücklich mit den Händen, seine durchstochene Kehle, um den Besucher anzusprechen; und Pier öffnet den stummen Mund Curios, um dessen Wunde, die einzige zunächst unsichtbare in diesem Gesang, dem Jenseitsbesucher zu zeigen. In den letzten zwei Fällen geschieht das Weisen dagegen jeweils als ein `Heben', im Text jeweils durch das Verb "levare" bezeichnet: Mosca Lamberti hebt beide Armstümpfe in die Luft, so daß das Blut ihm über das Gesicht strömt; und Bertran de Born hebt den Arm mit dem abgeschlagenen Kopf in der Hand hoch zu der kleinen Brücke, auf der Dante und Vergil über dem Graben stehen. Insgesamt also, wenn man Ali als Sonderfall und ersten einbezieht, ein `numerus perfectus' von eins plus drei plus zwei.

Es scheint demnach, daß Dante den gesamten 28. Gesang bzw. dessen erzählenden Haupteil so eingerichtet hat, daß die sechs Sünder, ihre Wunden, Gesten und Reden auf vielfältige Weise die `vollkommene' Erfüllung der Sechszahl durch ihre Teiler 1, 2 und 3 widerspiegeln. Diese Anlage wird dann auch durch die Vorrede des Gesangs, die dem erzählenden Hauptteil vorangestellt ist, im Kleinen bereits vorweggenommen (Tabelle III). Denn dort vergleicht Dante den Anblick der Verwundeten an diesem Strafort einer imaginären Zusammenschau der Verwundeten aus fünf irdischen Kriegen oder Schlachten in der Geschichte Unteritaliens, von denen zwei, die italischen Kriege der Trojaner und der zweite Punische Krieg Hannibals gegen die Römer, der vorchristlichen Ära angehören, während drei, die Eroberungszüge des Normannenfürsten Robert Guiscard und die Niederlagen der Staufer bei Ceprano und Tagliacozzo, der christlichen Ära angehören: legt man diese zeitliche Einteilung zugrunde, so werden hier also zwei Gruppen von Verwundeten aus vorchristlicher Zeit und drei Gruppen von Verwundeten aus christlicher Zeit der einen infernalischen Versammlung von Höllensündern aus allen Zeiten vergleichend gegenüber gestellt, zwei plus drei plus eins bzw. BBCCCA.

Daß Dante diesen 28. Höllengesang tatsächlich ganz und gar nach dem arithmetischen Konzept des `numerus perfectus' aufgebaut hat, mag zuletzt ein Blick auf die Gesamtheit der in diesem Gesang thematisierten Geschichtsfälle zeigen (cf. Tabelle VII). Es handelt sich um insgesamt vierzehn, von denen zwei der geschichtlichen Zukunft, vier der vorchristlichen Ära, und acht der vergangenen christlichen Ära zugeordnet werden können. Das erscheint für das uns interessierende Zahlenverständnis nocht nicht besonders signifikant. Unter den acht Vorfällen der christlichen Ära ragt jedoch einer insofern heraus, als über ihn im Text anspielungsweise signalisiert wird, daß Dante selber persönlich involviert oder zumindest als Augenzeuge zugegen war, nämlich das geschichtliche Wirken von Pier da Medicina als mutmaßlich politischer Zwietrachtstifter. Wenn es deshalb gerechtfertigt ist, diese acht Vorfälle noch einmal als sieben und einen zu differenzieren, so ergibt sich eine Gesamteinteilung von 1, 2, 4 und 7 geschichtlichen Themen, die zusammen mit ihrer Summe 14 genau den Divisoren der zweiten `perfekten' Zahl 28 entsprechen.

Ich habe so weit darauf verzichtet, diesen zahlhaften Aufbau auch inhaltlich in einem bestimmten Sinn zu deuten. Tatsächlich würde dies hier auch zu weit führen, da zu diesem Zweck näher auf Dantes heilspolitische Vorstellungen über die Rolle des Römischen Imperiums und der Römischen Kirche einzugehen wäre, wie er sie anderweitig ausführlich dargelegt hat. Einige Hinweise seien jedoch gegeben. Dantes leitende Grundvorstellung, entwickelt als Gegenbild zu den politischen Konflikten der beiden Universalmächte in seiner Zeit, war die einer strikten Trennung und zugleich eines harmonischen Zusammenwirkens zwischen der weltlichen Oberhoheit des Kaisers und der geistlichen Oberhoheit des Papstes, die idealiter den gesamten bewohnten Weltkreis umfassen und den politischen Partikularismus ebenso aufheben wie, gemäß dem Auftrag des Evangeliums, alle Völker in dem einen christlichen Glauben vereinen sollte. Ihren politischen Idealzustand hatte die Welt nur ein einziges mal erreicht, nämlich in der geographischen Ausdehnung und friedlichen Verfassung des Römischen Reiches zur Zeit der Geburt Christi, als, wie Dante im Convivio schreibt, im Hinblick auf die Inkarnation Christi die Verfassung der Erde ihren vorbestimmten höchsten Grad an Vollkommenheit und an Ähnlichkeit mit dem Himmel erreichte. Daß gerade das Römische Reich dazu bestimmt war, daß in seinen Grenzen die Inkarnation stattfinden und sein Kaisertum das der Kirche komplementär zugeordnete Weltkaisertum werden sollte, war laut Dante von Anbeginn an in der römischen Geschichte angezeigt, sowohl in der Geburtsstunde Rom, der Ankunft des Aeneas in Italien, die Dante in einer signifikanten Gleichzeitigkeit zur Geburt Davids in Jerusalem sieht, als auch in den anschließenden geschichtlichen Kämpfen, in denen Aeneas und seine aus der Verbindung mit Lavinia hervorgegangenen Nachfahren sowohl gegen inneritalienische Gegner wie auch gegen die aus Afrika eindringenden Punier und schließlich gegen alle von den Römern unterworfenen Völker gleichsam wie durch Gottesurteile ihre Bestimmung zur Weltherrschaft bestätigten. Und das Haupt, von dem aus die beiden Leuchten des Papsttums und des Kaisertums die Welt regieren sollten, sollte nach dieser Deutung des Heilsplanes natürlich keine andere Stadt sein als Rom, die Grabstätte Peters und der Sitz der Römischen Kaiser von Anfang an.

Alle vier Ereignisse der vorchristlichen Ära, die der 28. Gesang thematisiert, haben in diesem Heilsplan ihren genauen Ort: der Kampf des Turnus und seiner italischen Anhänger gegen Aeneas und dessen Trojaner bei deren Ankunft in Italien war eine Auflehnung gegen den göttlichen Heilsplan, ebenso die für Dante geschichtlich in etwa gleichzeitige Rebellion Achitophels und Absaloms gegen David, und diese beiden in ihrer geschichtlichen Synchronie auf die spätere Rolle Roms bei der Inkarnation Christi hindeutenden Ereignisse hat Dante als erstes und letztes im Aufbau seines 28. Gesang höchst planvoll einander gegenübergestellt. Eine Auflehnung gegen die vorbestimmte Rolle Roms war auch der Einzug der Punier in Italien, mit der für die Römer vernichtenden Niederlage bei Cannae, die in der Vorrede des Gesangs besonders hervorgehoben wird, und die, wie Dante im Convivio einmal erklärt, erst durch Scipios Sieg über die Punier im afrikanischen Tal von Zama wieder gerächt und ausgeglichen wurde: in genau jenem afrikanischen Tal also, in dem Curio später dann die den Heilsplan erneut gefährdende Niederlage der Truppen Caesars verschuldete, und zwar gerade darum verschuldete, weil er leichtsinnig geglaubt hatte, an dieser für Rom so ruhmreichen Stätte den Sieg Scipios noch einmal wiederholen zu können. Auch der Punische Krieg, wie er in der Vorrede von Dantes Gesang evoziert wird, und die Präsenz Curios im erzählenden Hauptteil des Gesangs sind folglich für Dante miteinander assoziiert.

Curio kommt überhaupt eine Schlüsselstellung im Aufbau des Gesangs zu. Obwohl sein persönliches Verhalten als Ratgeber und Anhänger Caesars nach der Darstellung Lukans von niedrigen Instinkten geleitet, nämlich mit dem Gold Caesars erkauft war, war doch für Dante die Eröffnung des Bürgerkrieges, zu der Curio geraten hatte, eine notwendige Bedingung um jenes Kaisertum und jene Ausdehnung des römischen Reiches zu schaffen, die im Hinblick auf die Geburt Christi vorbestimmt waren. Als einziger Vertreter der vorchristlichen Ära im erzählenden Hauptteil des Gesangs markiert Curio somit gewissermaßen jene Zeitenwende im Aufbau des Gesangs, die er durch sein moralisch zwar verwerfliches, aber geschichtlich notwendiges Verhalten herbeizuführen mitgewirkt hatte. Von daher läßt sich dann auch vermuten, daß die Repräsentation der drei Weltteile durch die sechs Sünder und, gemäß ihrer geographischen Herkunft, die ost-westliche Sequenz von Asien/Arabien (d.h. Mohammed u. Ali) über Italien mit Rom in der Mittelposition bis hin zum englischen Kronerbe in Südfrankreich (d.h. der Heimat Bertrans de Born) jene ideale Ausdehnung des römischen Reiches figuriert, die für die Geburt Christi vorbestimmt war, falls der Aufbau nicht vielmehr den Verlust dieser Einheit durch die Eroberungen des Islam und durch die innereuropäischen Streitigkeiten reflektiert. Die ost-westliche Sequenz der sechs Sünder hat jedoch auch noch einen anderen, sehr präzisen Sinn, der sich u.a. aus motivischen Parallelen zum 32. Gesang des Purgatorio und zu Dantes Brief an die Kardinäle im Konklave von Perugia ergibt, d.h. aus Parallelen zu Aussagen, in denen es jeweils um die von Dante so sehr beklagte Entführung der Kirche aus Rom in ihre `babylonische Gefangenschaft' in Südfrankreich geht. Sieht man Mohammed und Ali nicht einfach nur als Araber oder Asiaten, sondern präziser noch in einer besonderen Beziehung zum Heiligen Land, das der Christenheit durch den Islam verloren gegangen war, so zeichnet die geographische Sequenz der Sünder die drei Stationen der Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg von Jerusalem über Rom nach Südfrankreich nach. Zum fingierten Zeitpunkt des erzählten Geschehens, 1300, befand die Kurie sich allerdings unter Bonifaz VIII. noch da, wo sie für Dante hingehörte, in Italien. Aber 1305 wurde nach langer Sedisvakanz schließlich Bertran de Got, zuvor Bischof von Poitiers und Erzbischof von Bordeaux, zum Papst gewählt, der sich dann in Lyon zu Papst Clemens V. krönen ließ und die Kurie in Frankreich zurückbehielt, zunächst vorwiegend in Poitiers, bis er sie zuletzt fest in Avignon etablierte. Und das heißt, daß in Dantes 28. Gesang der Ort der französische Gefangenschaft der Kirche durch einen aquitanischen Trobador repräsentiert wird, dessen Burg Autafort nicht nur in der späteren Diözese dieses verwerflichen Nachfolgers Petri lag, zwischen Poitiers und Perigueux, sondern der als Bertran de Born auch auf den selben Vornamen getauft war wie dieser Papst. Es ist folglich im geographischen Aufbau des Gesangs nicht nur der ideale Zustand des römischen Kaiserreiches bzw. dessen aktuelle Zersplitterung, sondern auch der geschichtliche Weg oder Irrweg des Papsttums genau reflektiert.

Diese eiligen Hinweise müssen hier leider genügen. Sie mögen jedoch bereits deutlich machen, daß wir es hier mit einem Zahlenbau zu tun haben, der keineswegs nur an traditionelles Schulwissen anknüpft, sondern zugleich auch für Inhalte codiert, die für Dantes Zeit höchst aktuell und von einiger politischer und kirchenpolitischer Brisanz waren. In jedem Fall aber handelt es sich um einen Zahlenbau, der für den gewöhnlichen Leser von Dantes Zeit in dieser so realistisch und absichtslos daherkommenden Erzählung gar nicht zu bemerken war, sondern zu bemerken war nur für einen Leser, der eine gewisse exegetische Schulung besaß und außerdem über die nötige Humilitas verfügte, sich auf eine sehr eingehende Betrachtung der hier dargestellten Prozession zeichenhaft verstümmelter Leiber einzulassen, die ja zur näheren Betrachtung wirklich nicht jedermann einlädt. Unter den Kommentatoren Dantes, die den Gesang während der letzten mehr als sechshundert Jahre kommentiert haben, scheint ein solcher Leser bisher noch nicht aufgetreten zu sein.

Wir haben damit verschieden Beispiele für Verwendung `perfekter Zahlen' im mittelalterlichen Dichtungsaufbau kennengelernt, zunächst noch eher wenig entwickelt bei Alkuin, formal aufwendiger durchkonzipiert bei Hrabanus Maurus, und mit einer ganz besonderen Komplexität schließlich bei Dante gestaltet, wobei der letztere sich von seinen frühmittelalterlichen Vorgängern auch insofern unterscheidet, als bei ihm nicht formale Elemente wie Strophe, Vers und Buchstabe, sondern die Dinge selbst, von denen seine Dichtung handelt, zahlhaft `vollkommen' angeordnet sind. In diesem Punkt steht Dantes Dichtung der Bibel in ihrem patristisch-mittelalterlichen Verständnis näher, da auch dort weniger die zahlhafte Einteilung der biblischen Bücher, sondern vor allem die Zahl von Dingen, Personen und Ereignissen der biblischen Geschichte in ihrem verborgenen Sinn gedeutet wurde. Wo die karolingischen Dichter formale Elemente in zahlhafter `Vollkommenheit' arrangiert hatten, da hat Dante also in genauerer Nachahmung des göttlichen Schöpfers geschichtliche Personen und Ereignisse zahlhaft geordnet, die scheinbar katastrophisch verlaufende Weltgeschichte auf eine vorbestimmte, Ordnung bezogen und so im eigenen Gedicht noch einmal die Vorstellung von einer Schöpfung sinnfällig gemacht, in der alle Dinge nach Maß, Zahl und Gewicht eingerichtet sind.


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